Grabkunst im antiken Griechenland

Grabkunst im antiken Griechenland
Grabkunst im antiken Griechenland
 
Die Bilder, mit denen die Griechen ihre Grabstätten schmückten, rufen bei heutigen Betrachtern oftmals tiefe Betroffenheit hervor. Die Szenen, in denen die Verstorbenen den Hinterbliebenen noch einmal imaginär vor die Augen treten und Abschied nehmen, lassen die Atmosphäre der Trauer spürbar werden. Doch die vielen ergreifenden Ausführungen zu den griechischen Grabreliefs werden dem Darstellungsgehalt der Reliefs, wie man jetzt weiß, nicht gerecht.
 
Bei einer systematischen Sichtung aller Grabreliefs bestätigte sich eine schon früher gelegentlich wahrgenommene Beobachtung: die in den Reliefs auftretenden Personen stehen oftmals in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang mit den in den zugehörigen Gräbern Bestatteten. Das gleiche gilt für inschriftliche Namensnennungen auf den Reliefs in Bezug zum Geschlecht der Dargestellten.
 
Die Griechen bestatteten ihre Toten in Familiengrablegen. Die Grabbezirke künden von der - natürlich positiven - Selbsteinschätzung der Grabherren und ihrer Familien. Die Angehörigen jener Bevölkerungsschicht, die sich den Aufwand künstlerisch anspruchsvoller Gräber leisten konnte, unterhielten die Grabbezirke entlang der wichtigsten Zugangsstraßen zur Stadt. Dort kamen viele Menschen vorbei, die die Bildwerke wahrnahmen. Für Fremde spiegelte sich in den Grabmälern der Anspruch einer Stadt und ihrer maßgeblichen Bürger.
 
Bevorzugte Bildmotive zur standesgemäßen Darstellung der Männer waren ihre Charakterisierung als Krieger und Athleten oder auch als Jäger. Wer in diesen Bereichen erfolgreich war, genoss hohes Ansehen. Ein Angehöriger der Oberschicht traf mit den Männern seinesgleichen regelmäßig zum Gedankenaustausch zusammen. Der äußere Rahmen dieser Zusammenkünfte war mit dem gemeinschaflichen Mahl verbunden. Diese Symposien sind uns vor allem aus dem Kreis der Philosophen bekannt. Doch bildeten sich solche Kreise auch unter den Angehörigen der Geschäftswelt. Einen Bürger, der in seiner Heimatstadt etwas galt, traf man folglich beim Symposion oder Bankett. Kaum ein anderes Thema ist daher in den Szenen der Grabreliefs so häufig dargestellt. Der Mann liegt auf seiner Kline, dem üblichen Liegemöbel, ein Tisch ist mit üppigen Speisen beladen, der Wein steht im Mischkrug bereit. Mitunter ist ein Diener zugegen. Manche Reliefs greifen das Ambiente des in einer größeren Gruppe abgehaltenen Banketts noch direkter auf, indem sie zwei Männer in einem solchen Bild vereinen. Bisher singulär ist das Relief, das zwei Bankettteilnehmer mit einem in seinem Boot sitzenden dritten Mann zeigt. Hier wird offensichtlich auf den gemeinsamen Beruf der Mitglieder dieses Bankettvereins angespielt: sie sind Besitzer der für Athens Lebensmittelversorgung so wichtigen Getreideschiffe. Weitere Berufe, deren Ansehen offensichtlich so hoch war, dass man sie ostentativ ins Bild setzte, waren der eines Arztes, eines Töpfers oder auch eines Musiklehrers.
 
Unmittelbar verwandt mit den Bankettszenen wohl situierter Bürger sind Reliefs, die den auf der Kline lagernden Mann in ein anderes Umfeld stellen: an das Lager tritt eine Gruppe von Menschen heran, die in ihren Proportionen deutlich kleiner sind. Dieses Bildschema wird in der griechischen Kunst eingesetzt, um Sterbliche von der Sphäre der Götter und Heroen abzusetzen. Es gibt also durchaus Grabreliefs, die auf den Tod anspielen und den Verstorbenen als so herausragend darstellen, dass er den Heroen gleichgesetzt wird, also jenen Männern, die von den Göttern in Anerkennung ihrer Leistungen in eine Mittelstellung zwischen Menschen und Göttern gehoben wurden.
 
Frauen traten in der griechischen Gesellschaft öffentlich nicht in Erscheinung, es sei denn, sie waren Priesterinnen. In der Bilderwelt der Grabreliefs nehmen sie jedoch einen großen Raum ein. Nicht als Personen des öffentlichen Lebens werden sie gezeigt, sondern als ehrbare Vertreterinnen ihres Standes in der Welt des Hauses. Sie wurden ihrer Rolle dann gerecht, wenn sie die Hauswirtschaft gut bewältigten. Vor allem aber wurden sie daran gemessen, ob sie durch Geburt und Betreuung möglichst vieler gesunder Kinder den Fortbestand der Familie sicherten. In diesen gedanklichen Kontext gehören die vielfältig abgewandelten Szenen von Frauen im Zusammensein mit der Dienerin oder im Kreis ihrer Kinder. Wenn solchen Bildern noch ein alter Mann als Vertreter der voraufgehenden Generation zugesellt ist, wird die lange Dauer der Familientradition noch sinnfälliger zum Ausdruck gebracht. In dem gemeinsamen Auftreten möglichst vieler Familienmitglieder kam das gute Einvernehmen innerhalb der Hausgemeinschaft zum Ausdruck - eine Voraussetzung für den Bestand des Gemeinwesens einer ganzen Stadt.
 
Wenn wir die Grabreliefs in ihrer überwiegenden Zahl als - überhöhte - Abbilder eines Lebensideals verstehen müssen, wird verständlich, warum in Athen binnen zweier Jahrhunderte gleich zweimal ein Verbot ausgesprochen werden musste, die Gräber mit aufwendigen Bildwerken zu versehen. Im späten 6. Jahrhundert und im ausgehenden 4. Jahrhundert war ein Einschreiten gegen den offenbar ausufernden Grabluxus vonnöten. Im 6. Jahrhundert erreichten die schlanken Grabstelen Höhenmaße von 5 m. Wie manche Kultmale in den Heiligtümern waren sie bekrönt von dem Göttlichkeit symbolisierenden heraldischen Motiv einer Sphinx. Im 4. Jahrhundert nahm das Rahmenwerk der Reliefs mehr und mehr den Charakter eines kleinen Tempels (Naiskos) an.
 
Zu den Landschaften, in denen die Grabreliefkunst eine besondere Pflege und Blüte erfuhr, gehören neben Athen und den Kykladeninseln auch Regionen, die ansonsten in der griechischen Kunstgeschichte nicht so sehr hervortreten, zum Beispiel Thessalien und der Nordosten mit der Insel Thasos.
 
Prof. Dr. Ulrich Sinn
 
 
Lauter, Hans: Die Architektur des Hellenismus. Darmstadt 1986.

Universal-Lexikon. 2012.

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